Mittwoch, 4. März 2009

Eine wahre Begebenheit

Diese Geschichte erzähle ich seit vielen Jahren meinen Kindern und meinen Schülern. Sicher habe ich sie selbst irgendwann einmal erzählt bekommen.

Zum ersten Mal lade ich dich ein, mit mir zu gehen, zu meinem besten Freund.
Hast du auch so einen? Er hilft immer. Bin ich noch so verzweifelt, weiß ich mal gar nicht mehr weiter. Er ist immer für mich da.
Manchmal, ganz selten, bleibe ich länger bei ihm, aber meine regelmäßigen Besuche dauern nur Sekunden und sind mir doch so wertvoll.
Du bist neugierig geworden? Dann komm.
Wir laufen den Burgberg hinan. Das alte Pflaster geht sich etwas beschwerlich, aber du wirst sehen. Es lohnt sich. Große Bäume am Wegrand breiten ihre starken Zweige schützend über uns.
Schau nur, die alte Burg erhebt sich weit über das Land. Heute ist ein Fest. Altertümliche Musik von schönem Klang liegt in der Luft. Menschen in wundersamer Kleidung unterhalten sich fröhlich.
Sieh nur, wie knorrig die alten Äste dieses Baumes über der bequemen Bank hängen. Hier sitze ich gerne bei diesem schönen Wetter und schaue über das weite Land.
Aber komm, ich wollte dir ja jemanden vorstellen:
Kennst du diese Situationen in einer Klassenarbeit oder einem Test: Du hast gut gelernt und gestern wusstest du auch noch alles, aber heute: Weg- alles einfach vergessen.
Früher passierte mir so etwas oft. Heute habe ich einen Hüter meiner Gedanken. Meinen Freund.
Schau nur, hier die Tür im Baum. Sie öffnet sich leise, wenn man sie berührt. Eine lange bequeme Treppe führt hinunter, unendlich lang. Sie ist sanft beleuchtet und wenn du sie hinunter gehst, fühlst du dich ganz sicher und wohl. Langsam steigst du die Stufen hinab.
Es geht immer tiefer hinab und immer tiefer. Gerade, als du beschließt, dich etwas auszuruhen, erblickst du am Ende der Treppe ein gemütliches Zimmer.
Es ist ganz geschmackvoll eingerichtet. so, wie es dir am besten gefällt.
Der alte weise Mann kommt herein. Du kennst ihn gut und bist glücklich ihn zu sehen. Ganz vertraut seid ihr. Gemütlich lässt du dich nieder. Schon bringt er dir eine Tasse deines Lieblingsgetränkes und dein Freund setzt sich dir gegenüber.
Nun hast du alle Zeit der Welt. Lehn dich zurück. Mach es dir bequem. Er ist nur für dich da, hört dir zu, wenn du Sorgen hast, tröstet dich und bewahrt all dein Wissen für dich auf. Du kannst ihn alles fragen, was du je gelernt hast. Er erklärt dir, was du noch nicht ganz verstanden hast mit ruhiger angenehmer Stimme und erinnert dich an das, was du nicht vergessen wolltest. Du fühlst dich ganz wohl.
Wenn es an der Zeit ist, stehst du auf und verabschiedest dich von dem alten weisen Mann. Er sagt dir, dass du jederzeit wieder kommen darfst. Du bist hier immer willkommen.
Dann steigst du ganz leicht die Treppe wieder hinauf, trittst durch die Tür aus dem Baum heraus und ich erwarte dich schon auf der Bank mit dem schönen Ausblick. Du kannst jetzt noch ein wenig neben mir Platz nehmen, wenn du etwas verschnaufen möchtest. Vielleicht möchtest du aber auch gleich leichten Fußes den Berg hinabstürmen und an dein Tagesgeschäft gehen. Es wird ein erfolgreicher Tag. Ich schaue dir nach und weiß sicher, dass du wieder kommen wirst.
Berlin 2009

Für Maryse

Eine Mail aus Frankreich:

Karlsbrücke in Prag
Du stehst auf der Karlsbrücke im Winter und schaust zum Schloss hinauf. Was fällt dir ein?

Was fällt dir ein, Maryse? *lach* Mich einfach einzuspannen. Bestimmt habe ich demnächst auch eine schöne Aufgabe für dich. Ich bin schon ganz gespannt, wie du dann damit umgehst.

Ein Sonntag im Februar. Mein Sohn hat Geburtstag. Er ist 22 Jahre alt geworden. Heute. Und ich stehe auf der Karlsbrücke in Prag. Zwei Herzen ach in meiner mütterlichen Brust.

Es ist kalt. Eisiger Wind trifft auf meine müde Haut. Eine anstrengende kreative und schöne Woche liegt endlich hinter mir.
Sehnsucht macht sich in meinem Herzen breit. Ich möchte schnell nach Hause, möchte gratulieren, Geburtstag feiern, Freunde und Verwandte treffen, die es sich gerade in meinem Wohnzimmer zuhause gemütlich machen und den leckeren Kuchen essen, den der Älteste sicher für seinen kleinen Bruder gebacken hat.
Ich möchte aber auch durch Prag flanieren, das goldene Gässchen zum ersten Mal im Winter anschauen, über das geschichtsträchtige Kopfsteinpflaster laufen, wie schon so oft.

Meine Augen finden das Geburtshaus von Franz Kafka. Gerade habe ich noch mit Madame Happe darüber gesprochen. Ich bin bestimmt schon 15 Mal in Prag gewesen, aber ich war noch nie im Kafkahaus. Immer verliebe ich mich in die Prager Architektur und mag gar nicht davon lassen.
Die Trennung ist so schwer.
Madame Happe. Wenn meine Mutter „Madame“ zu mir sagte, war das eine Ermahnung. Madame (ich) hatte etwas ausgefressen. Ob es in Frankreich auch deutsche Worte gibt, die dort eine völlig neue Bedeutung bekommen haben?

Als ich das letzte Mal auf dieser Brücke stand, war es ein lauer Septemberabend, alles erstrahlte im goldenen Schein der untergehenden Sonne. Gerade eben spiegelte sie sich noch rot im Wasser der Moldau.
Genau auf der Mitte der Brücke war ich verabredet. Mein Mann begleitete mich.
Zum ersten Mal würde ich die Leute kennen lernen, mit denen ich mich allabendlich im Chat und in Foren traf. Männer aus ganz Deutschland, die alle genauso neugierig auf mich waren, wie ich auf sie.
Wir schreiben uns zum Teil schon zwei Jahre und haben uns noch nie persönlich gesehen. Manche kenne ich vom Foto.
Ich würde kein Foto von mir veröffentlichen. Ich war unter einem Pseudonym hier. Ich wollte jeden Zusammenhang mit der Lehrerin, die heute hier auf der Karlsbrücke steht, vermeiden. Es musste niemand wissen, dass ich Lehrerin bin. Wenn ich gefragt wurde, sagte ich, ich sei Beamte. Das ist schlimm genug.
Lehrer hatten gerade einen sehr schweren Stand in Deutschland. Ein sehr bedeutender deutscher Politiker hatte uns als faule Säcke bezeichnet.
Ich weiß, dass ich eine gute Lehrerin bin. Nie war ich zu faul, mich ordentlich um meine Schüler zu kümmern, habe oft mehr gemacht, als das, wofür ich bezahlt werde und trotzdem schäme ich mich: Für die wenigen Lehrer, die schlecht arbeiten; für diesen deutschen Kanzler.

Es war eine ganz herzliche Begegnung mit den 10 fremden Männern auf der Karlsbrücke. Stundenlang haben wir in einer viel zu lauten Eckkneipe wunderbares tschechisches Bier getrunken, gut gegessen und gefachsimpelt. Über Fische. Diskusfische. Unser gemeinsames Hobby.
Was dachtest du denn?

Irgendeiner hat auch heraus bekommen, dass ich Lehrerin bin. Später sagte er zu mir:„Lehrerin in der heutigen Zeit? Ich möchte nicht mit dir tauschen. Aber Schüler bei dir wäre ich gerne gewesen.“

Ein wahrhaft goldener Herbst in einer goldenen Stadt.

Gemeinsam mit meinem Mann verlasse ich die eisige Brücke, steige ins Auto und fahre zu meinem Geburtstagskind. Im Kafkahaus war ich wieder nicht. Vielleicht beim nächsten Mal.
Ich bin ganz sicher, dass ich in diese Stadt noch sehr oft zurückkehre und irgendwann werde ich mit Maryse den Kafka besuchen gehen und wir werden uns an diesen kalten Tag erinnern…

Berlin 2009

Der Titel...

...spielt weniger auf meinen Namen oder meine Figur an, er steht eher für Ungewöhnliches, Überraschendes, Neues, gänzlich Unerwartetes.

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Zuletzt aktualisiert: 3. Mär, 09:10

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