Mittwoch, 4. März 2009

Für Maryse

Eine Mail aus Frankreich:

Karlsbrücke in Prag
Du stehst auf der Karlsbrücke im Winter und schaust zum Schloss hinauf. Was fällt dir ein?

Was fällt dir ein, Maryse? *lach* Mich einfach einzuspannen. Bestimmt habe ich demnächst auch eine schöne Aufgabe für dich. Ich bin schon ganz gespannt, wie du dann damit umgehst.

Ein Sonntag im Februar. Mein Sohn hat Geburtstag. Er ist 22 Jahre alt geworden. Heute. Und ich stehe auf der Karlsbrücke in Prag. Zwei Herzen ach in meiner mütterlichen Brust.

Es ist kalt. Eisiger Wind trifft auf meine müde Haut. Eine anstrengende kreative und schöne Woche liegt endlich hinter mir.
Sehnsucht macht sich in meinem Herzen breit. Ich möchte schnell nach Hause, möchte gratulieren, Geburtstag feiern, Freunde und Verwandte treffen, die es sich gerade in meinem Wohnzimmer zuhause gemütlich machen und den leckeren Kuchen essen, den der Älteste sicher für seinen kleinen Bruder gebacken hat.
Ich möchte aber auch durch Prag flanieren, das goldene Gässchen zum ersten Mal im Winter anschauen, über das geschichtsträchtige Kopfsteinpflaster laufen, wie schon so oft.

Meine Augen finden das Geburtshaus von Franz Kafka. Gerade habe ich noch mit Madame Happe darüber gesprochen. Ich bin bestimmt schon 15 Mal in Prag gewesen, aber ich war noch nie im Kafkahaus. Immer verliebe ich mich in die Prager Architektur und mag gar nicht davon lassen.
Die Trennung ist so schwer.
Madame Happe. Wenn meine Mutter „Madame“ zu mir sagte, war das eine Ermahnung. Madame (ich) hatte etwas ausgefressen. Ob es in Frankreich auch deutsche Worte gibt, die dort eine völlig neue Bedeutung bekommen haben?

Als ich das letzte Mal auf dieser Brücke stand, war es ein lauer Septemberabend, alles erstrahlte im goldenen Schein der untergehenden Sonne. Gerade eben spiegelte sie sich noch rot im Wasser der Moldau.
Genau auf der Mitte der Brücke war ich verabredet. Mein Mann begleitete mich.
Zum ersten Mal würde ich die Leute kennen lernen, mit denen ich mich allabendlich im Chat und in Foren traf. Männer aus ganz Deutschland, die alle genauso neugierig auf mich waren, wie ich auf sie.
Wir schreiben uns zum Teil schon zwei Jahre und haben uns noch nie persönlich gesehen. Manche kenne ich vom Foto.
Ich würde kein Foto von mir veröffentlichen. Ich war unter einem Pseudonym hier. Ich wollte jeden Zusammenhang mit der Lehrerin, die heute hier auf der Karlsbrücke steht, vermeiden. Es musste niemand wissen, dass ich Lehrerin bin. Wenn ich gefragt wurde, sagte ich, ich sei Beamte. Das ist schlimm genug.
Lehrer hatten gerade einen sehr schweren Stand in Deutschland. Ein sehr bedeutender deutscher Politiker hatte uns als faule Säcke bezeichnet.
Ich weiß, dass ich eine gute Lehrerin bin. Nie war ich zu faul, mich ordentlich um meine Schüler zu kümmern, habe oft mehr gemacht, als das, wofür ich bezahlt werde und trotzdem schäme ich mich: Für die wenigen Lehrer, die schlecht arbeiten; für diesen deutschen Kanzler.

Es war eine ganz herzliche Begegnung mit den 10 fremden Männern auf der Karlsbrücke. Stundenlang haben wir in einer viel zu lauten Eckkneipe wunderbares tschechisches Bier getrunken, gut gegessen und gefachsimpelt. Über Fische. Diskusfische. Unser gemeinsames Hobby.
Was dachtest du denn?

Irgendeiner hat auch heraus bekommen, dass ich Lehrerin bin. Später sagte er zu mir:„Lehrerin in der heutigen Zeit? Ich möchte nicht mit dir tauschen. Aber Schüler bei dir wäre ich gerne gewesen.“

Ein wahrhaft goldener Herbst in einer goldenen Stadt.

Gemeinsam mit meinem Mann verlasse ich die eisige Brücke, steige ins Auto und fahre zu meinem Geburtstagskind. Im Kafkahaus war ich wieder nicht. Vielleicht beim nächsten Mal.
Ich bin ganz sicher, dass ich in diese Stadt noch sehr oft zurückkehre und irgendwann werde ich mit Maryse den Kafka besuchen gehen und wir werden uns an diesen kalten Tag erinnern…

Berlin 2009

Der Titel...

...spielt weniger auf meinen Namen oder meine Figur an, er steht eher für Ungewöhnliches, Überraschendes, Neues, gänzlich Unerwartetes.

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