Samstag, 25. April 2020

Mein 9.November 1989

Die Wende? Habe ich verschlafen!
Es ist wahr. Ich habe die Wende verpasst. Die entscheidenden Minuten sah ich weder im
Fernsehen, habe ich nicht im Radio gehört, noch hat mich jemand angerufen, an die Tür
geklopft, auf dem Schulweg angesprochen oder irgendwie vorgewarnt.
Der Tag, der anders war.
Am 9. November hatte meine inzwischen lange verstorbene Großmutter Geburtstag.
1989 hatte sie in eine kleine Gaststätte in der Nähe ihres Pflegeheims eingeladen. Meine
Kinder: 1,5 und 4 Jahre alt, fuhren beim Spazierengehen auf ihrem Schoß im Rollstuhl mit,
tobten den halben Tag durch die Gegend oder mit Papa auf dem Spielplatz in der Nähe. Am
Abend waren sie entsprechend quengelig und unglaublich müde. Wir mussten noch das
bestellte Abendbrot aushalten und wussten: Am nächsten Tag muss Mama zur Schule.
Endlich im Trabbi gab es noch ein paar Schlaflieder von der Kassette und dann waren die
beiden auch ziemlich schnell auf der Rückbank eingeschlafen. Das Radio blieb aus, damit sie
nicht wach wurden. Zuhause hieß es für alle nur noch: Ab ins Bett. Wir schliefen völlig
erschöpft ein.
Am nächsten Morgen schlich ich mich aus dem Haus und ich fuhr mit dem Fahrrad zur
Schule. Bis dahin wusste und ahnte ich nichts.
Es muss so kurz vor 8 gewesen sein.
Auf dem Schulhof unglaubliche Unruhe.
Viele Grüppchen standen zusammen.
Als ich mein Fahrrad anschließen ging, klingelte es zum Reingehen. Ich war, wie immer spät
dran. Husch in meinen Klassenraum. Schön, den Morgen in der eigenen Klasse zu beginnen.
André, der Vorlauteste, begrüßte mich: „Na, sind Sie auch schon wieder da?“ Alle sprachen
durcheinander, ich verstand nichts.
Dann nahm ich (wie heute noch, wenn ich zuhören möchte) Platz auf dem Lehrertisch und
bat die Schüler, mir der Reihe nach zu erzählen, was passiert sei.
Was ich hörte, konnte ich einfach nicht glauben. Nicht erster April oder versteckte Kamera?
Meine müden Achtklässler berichteten mir, dass sie noch in der Nacht ihre ehemalige
Mitschülerin in Westberlin besucht hätten. Sie packten Schokolade und Bonbons aus, die sie
von Verwandten bekommen hatten und .... das Allererstaunlichste: Sie waren pünktlich zum
Unterrichtsbeginn da!
Dass ich dann mit meinen 25 Lenzen, auf meinem Lehrertisch sitzend, versuchte, ihnen das
madig zu machen; versuchte die ungeheuren (negativen) Konsequenzen mit ihnen zu
analysieren, ist mir heute noch unglaublich unangenehm.
Wenn ich an diese Klasse zurückdenke, verbinde ich mit ihnen so viele schöne und
interessante Erinnerungen, so tolle Erfahrungen, aber auch diesen peinlichsten Moment
meines (über) 30-jährigen Lehrerdaseins.

Kommentare von den damals anwesenden Schülern:
Nancy
Warum peinlich? Weil du da warst? 😂 und wir auch. Während ein nicht unerheblicher Teil
der Lehrer und Schüler dem Unterricht ferngeblieben ist. Ich hatte Angst, dass ich einige
meiner Freunde nicht mehr wiedersehe. So richtig greifen konnte ich das alles jedenfalls
nicht.
Torsten
Oh nein, da haben so einige gefehlt! Meine Mutter sagte noch zu mir. Du gehst auf jeden Fall
in die Schule und nach Schulschluss gehen wir rüber. Ich hab dann meiner Mutter danach
gesagt, dass wir uns das hätten sparen können 😎
Ich weiß noch, dass unser Sportlehrer über Ungarn rüber ist.
Angela
Ja, klar erinnere ich mich! Ich glaube, wir beide waren die einzigen, die in der Nacht nicht im
'Westen' waren und überlegt haben, ob die anderen alle spinnen! 😉
André
Ja, dass ich in der Schule war, kann ich mich erinnern. Mehr weiß ich auch nicht mehr.

Der Titel...

...spielt weniger auf meinen Namen oder meine Figur an, er steht eher für Ungewöhnliches, Überraschendes, Neues, gänzlich Unerwartetes.

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Zuletzt aktualisiert: 3. Mär, 09:10

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